Regionalversammlung Südhessen 2016–2021

15.10.2016

Rede von Alterspräsident Klaus-Jürgen Hoffie zur konstituierenden Sitzung der Regionalversammlung Südhessen (RVS) am 14. Oktober 2016 in Dietzenbach:

Herr Regierungsvizepräsident Dr. Böhmer, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten, verehrte Gäste und Mitarbeiter des Regierungspräsidiums!

Als Helmuth Graf von Moltke zum vierten und letzten Mal Alterspräsident im Reichstag des deutschen Kaiserreiches war, hatte er bereits das 90. Lebensjahr erreicht.

Konrad Adenauer war als Alterspräsident des Deutschen Bundestages 89, und auch der letzte Alterspräsident des Reichstages der Weimarer Republik hatte das Alter von 80 Jahren, das ich heute erreicht habe, bereits deutlich überschritten: Ich bin also ein noch junger Alterspräsident und bedanke mich sehr herzlich für alle guten Wünsche zu meinem Geburtstag.

Es ist mir eine Freude und angenehme Pflicht, Sie alle heute – am 14. Oktober 2016 – zur konstituierenden Sitzung der Regionalversammlung Südhessen herzlich begrüßen zu dürfen, mit der wir in die IX. Wahlperiode dieses Gremiums eintreten.

Ein besonderes Willkommen und meine Gratulation gilt den neu in die Regionalversammlung gewählten 52 Kolleginnen und Kollegen.

Sie stellen die Mehrheit der 99 Mitglieder dar, die von den 17 Entsendungskörperschaften sowie dem Regionalverband FrankfurtRheinMain entsandt sind, wobei einige unter ihnen zuvor bereits als Stellvertreter in der RVS tätig waren.

Einige Mitglieder aus der letzten Wahlperiode sind jetzt Stellvertreter von Mitgliedern der Versammlung, und es gibt einige, die bereits in früheren Wahlperioden – wie ich – bereits als Abgeordnete aktiv waren.

Meine Damen und Herren,

die Regionalversammlung setzt sich aktuell aus 15 Frauen und 84 Männern im Durchschnittsalter von knapp 50 Jahren zusammen, von denen:

  • 27 der CDU,
  • 29 der SPD,
  • 16 den Grünen,
  • 12 der FDP,
  • 9 der AfD,
  • 2 der Linken und jeweils
  • 1 der FW, FWG, ÜWG und Uwiga

angehören – soviel zur Statistik.

Meine Damen und Herren,

ich will gerne dem Privileg und der guten Tradition entsprechen, dass sich der Alterspräsident zu Beginn einer Wahl- oder Legislaturperiode mit einer Rede an das Parlament wendet.

Demokratie lebt vom Wechsel und von sich ändernden Mehrheiten. Dem können Koalitionen im Weg stehen, die a priori auf Dauer von mehr als einer Wahlperiode angelegt sind – z. B. bis 2026.

Zunächst möchte ich für eine Kultur der Verständigung und der Vernunft werben, indem wir miteinander umgehen im Respekt und der Toleranz vor der Meinung des anderen:

Es geht um fairen – sicher auch lebhaften oder streitigen – Wettbewerb von Überzeugungen und Ideen im Bemühen um den besten Weg, nicht aber um den Vorteil einer Partei, einer Fraktion oder Person.

Demokratie kann man auch daran erkennen, wie die Mehrheit mit der Minderheit umgeht.

Alle Mitglieder der Regionalversammlung sind gleich. Alle Abgeordneten und Fraktionen verdanken ihre Sitze dem Votum der Wähler. Der Respekt vor dem Wähler gebietet, dass es für neue Abgeordnete und neue Fraktionen keine Ausgrenzung gibt.

Miteinander können wir unseren Wählerauftrag sehr viel besser erfüllen als gegeneinander – und miteinander erreichen wir mehr, als es uns viele Politik- oder Politikerverdrossene zutrauen.

Dass „die da oben sowieso machen, was sie wollen“, ist eine weitverbreitete Meinung zur Politik: Leicht wird hier der Ruf nach mehr direkter Demokratie laut – leider meist verbunden mit dem Wunsch, ein missliebiges Vorhaben zu verhindern – und das vielfach mit Erfolg.

Wir müssen uns deshalb mit der Bevölkerung z. B. an die Vorstellung gewöhnen, dass in der Region in den nächsten Jahren erheblich mehr Wohnraum geschaffen werden muss, auch wenn das bedeutet, dass der eine oder andere den freien Blick auf Waldrand oder Rapsfelder verlieren wird.

Unsere Aufgabe ist es aber, über das Einzelvorhaben hinaus das große Ganze zu betrachten und verantwortlich zu entscheiden.

Dabei gilt es, die widerstreitenden Interessen zu ermitteln, zu verstehen, gerecht abzuwägen und am Ende unsere Entscheidungen fundiert zu begründen.

Es ist dabei gewiss:

Wir werden es nicht jedem recht machen können, ganz gleich, mit welcher Gründlichkeit wir arbeiten werden.

Meine Damen und Herren,

die Aufgabe der Regionalversammlung besteht insbesondere in der Aufstellung und Änderung des Regionalplans, dem Beschluss über Abweichungen vom Regionalplan und der Stellungnahme zu verschiedenen Fragen der Raumordnung in der Region.

Dieser Aufgabenzuschnitt könnte nüchterner kaum sein, allerdings haben diese nüchternen Aufgaben teilweise auch gravierende Auswirkungen auf die Zukunft der Region, in der die Menschen leben und arbeiten und die ihre Heimat ist oder werden soll.

Es geht teilweise um hochemotionale Fragen, und es überrascht deshalb, dass die Arbeit der Regionalversammlung in der Öffentlichkeit allgemein kaum wahrgenommen wird.

Meine Damen und Herren,

wir sollten allerdings auch die Frage beantworten, ob sich die Regionalversammlung im Wettbewerb der Metropolregionen Europas auf Dauer mit der Ausweisung und Nutzung von Flächen für Gewerbe, Wohnen und Einzelhandel begnügen kann.

Ich will das nur einem Beispiel deutlich machen: Wer angesichts des Brexit für die Ansiedlung von Organisationen und Institutionen der Finanzwelt in Frankfurt/Rhein-Main wirbt, wird sich frühzeitig darum kümmern müssen, wie und wo die Kinder dieser Familien, die nicht deutsch sprechen, zur Schule gehen können.

Deshalb muss Klarheit darüber bestehen, dass der weiteren Internationalisierung unserer Region die Internationalisierung des Bildungswesens folgen muss.

(Die enge Zuständigkeit der Regionalversammlung und der Gebietszuschnitt des Regionalverbandes verhindern deshalb, dass die Region Frankfurt/Rhein-Main entsprechende Konzepte erarbeitet und mit einer Stimme an die Landesebene heranträgt – oder gar selbst tätig wird.)

Damit ist natürlich die jahrzehntelange Diskussion um die Verfasstheit der Region aufgeworfen, von der auch die Regionalversammlung betroffen ist.

Die Zahl der Initiativen zur Verbesserung der Zusammenarbeit in der Region und zur Öffnung neuer Perspektiven ist in den letzten Jahrzehnten so groß geworden, dass es einem schwindelig wird:

Regionale, Metropolitana, das Leitbild Frankfurt/Rhein-Main 2020, FrankfurtRheinMain 2020+, FrankfurtRheinMain 2030, der Tag der Metropolregion, die Erklärung zur Zukunft der Metropolregion, die Internationale Bauausstellung IBA, die Themenwelten – und letztlich auch das Gesetz über die Bildung des Umlandverbandes, das Ballungsraumgesetz und das Metropolgesetz – um nur einige zu nennen. Wir dürfen und müssen nach den greifbaren Ergebnissen all dieser Initiativen fragen! Hieraus ergibt sich Handlungsbedarf.

Meine Damen und Herren,

es geht auch um die Effektivität unserer Arbeit:

Die Aufstellung eines Regionalen Flächennutzungsplans (der „RegFNP“) kostet – wenn man nur die jährlichen Kosten des Regionalverbandes zugrundelegt und auf die Gültigkeitsdauer des RegFNP von 10 Jahren hochrechnet – 125 bis 150 Mio. Euro – allein für das Gebiet des Regionalverbandes. Ob der Plan eine ausreichende Steuerungswirkung entfaltet, um Kosten in dieser Höhe zu rechtfertigen, ist fraglich.

Es bedurfte ja einiger Mühe, um die Ansprüche der Kommunen auf neue Flächen auf ein vernünftiges Maß zurückzustutzen. Da der Regionalverband ein sehr aussagekräftiges Monitoring betreibt, wissen wir, dass seine Kommunen selbst die reduzierten Wohnbauflächen, die im RegFNP bevorratet wurden, nur zu ca. 11 % entwickelt haben. Hier bedarf es einer gründlichen Analyse der wirklichen Gründe dafür, um wirkungsvollere Maßnahmen zur Bekämpfung der Wohnraumknappheit zu erarbeiten. Es wäre deshalb hilfreich, wenn wir ein abgespecktes regionales Monitoring auch für das Gebiet des sog. „Kragens“ zur Verfügung hätten, also für das Gebiet der Planungsregion, das nicht zum Ballungsraum zählt.

Unsere Arbeit in der anstehenden Wahlperiode findet statt vor dem Hintergrund von Wohnraumknappheit, steigenden Mieten, verstopften Straßen, überfüllten Zügen, überlasteten Bahnstrecken.

Die Rhein-Main-Region ist eine der dynamischsten Regionen in Deutschland. – Wenn sie es bleiben will, haben wir angesichts der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung die historische Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Regionalplanung einer günstigen Entwicklung der Wirtschaft in unserer Region zumindest nicht entgegensteht!

Wir brauchen zu lange für unsere Entscheidungen.

Gleichgültig, welches der zahlreichen großen regionalen Infrastrukturprojekte man herausgreift (ob die Regionaltangente West, die nordmainische S-Bahn, den Riederwaldtunnel oder die ICE-Trasse Frankfurt–Mannheim): über die meisten reden wir seit Jahrzehnten, sie sind lange überfällig, und ihre Verwirklichung steht in vielen oder sogar den meisten Fällen in den Sternen. – Dass die hessische Landesregierung – als einzige in Deutschland – keine Forderungen an den Bundesverkehrswegeplan angemeldet hat, bleibt vor diesem Hintergrund unbegreiflich.

Meine Damen und Herren,

letztlich haben wir das Problem, dass wir uns einer polyzentrischen Struktur – mit einer vergleichsweise kleinen Großstadt mit ihrem Speckgürtel im Zentrum – eines stark verflochtenen Wirtschaftsraumes gegenübersehen, der die Grenzen zu den Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg überschreitet.

Die Situation ist nur die: Niemand wartet auf uns. Wir werden unserer Verantwortung nur gerecht werden, wenn wir das Tempo notwendigen Handelns beschleunigen.

Da wünschte ich mir die Wiederholung einer Aufbruchstimmung aus der Zeit des legendären Frankfurter Oberbürgermeisters Ludwig Landmann. Nicht, weil er ein Liberaler war (zunächst im Nationalsozialen Verein Friedrich Naumanns, dann in der Fortschrittlichen Volkspartei und schließlich in der Deutschen Demokratischen Partei, DDP), sondern weil er die Vision eines „Rhein-Mainischen Städtekranzes“ schuf, mit einem Durchmesser von 60 Kilometern, der sich – um Frankfurt herum – im Norden bis Bad Nauheim, im Süden bis Darmstadt, im Westen bis Limburg, Mainz und Wiesbaden und im Südosten bis nach Würzburg erstreckte – und nicht an den Landesgrenzen, sondern an den Verkehrs- und Wirtschaftsverflechtungen orientiert war, und weil in den nur 9 Jahren seiner Zeit als Frankfurter Oberbürgermeister (von 1924–1933) unsere Region einen heute unvorstellbaren Entwicklungssprung vollbracht hat. –

Zu Ludwig Landmanns Leistungen gehört die kluge Einschätzung der überragenden Bedeutung der Universität und der Kulturpolitik für eine Großstadt, die Beauftragung von Ernst May mit dem Bau des sog. Neuen Frankfurt, mit dem 12.000 Wohnungen für fast 50.000 Arbeiter und Angestellte in einer Vielzahl von Neubausiedlungen entstanden (Bruchfeldstraße, Praunheim, Bornheimer Hang, Römerstadt, Westhausen, Heimatsiedlung und Hellerhofsiedlung), der Flughafen Frankfurt-Rebstock – einer der ersten in Deutschland –, das Waldstadion, die Großmarkthalle – heute Standort der Europäischen Zentralbank –, die Wiederbelebung der Frankfurter Messe, die Schirmherrschaft für die Autobahnstrecke Hamburg–Frankfurter Kreuz–Basel. Mit den Eingemeindungen von Höchst und Fechenheim übersprang Frankfurt 1928 die 500.000-Einwohner-Grenze und wurde zum Standort der Farbwerke.

Meine Damen und Herren,

wir stehen im Wettbewerb der Regionen Europas und weltweit in Wahrheit unter gewaltigem Druck, und müssen – wenn wir wirklich in die Spitzengruppe aufrücken wollen – in den nächsten 5 bis 10 Jahren eine Strecke zurücklegen, für die bisher in Jahrzehnten gerechnet wurde!

Dazu brauchen wir auch die Hilfe des Bundes und des Landes, und wir sollten uns nicht scheuen, sie einzufordern.

Dann können wir es schaffen. Aber wir müssen es wollen!